Digitaler Werther-Effekt - Fachleute warnen: Riskante Inhalte zu Suiziden in Netz und Popkultur

Von Paula Konersmann (KNA)

MEDIENETHIK - Ein Hinweis auf die Telefonseelsorge rechtfertigt keine problematischen Inhalte: Expertinnen fordern mehr Sensibilität, wenn es in Netz und Medien um Suizid geht - und verstärkte Aufklärung.

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Berichterstattung über Suizid

Foto: Harald Oppitz/KNA

Leipzig (KNA) Suizid wird mitunter romantisiert oder verharmlost: Wegen derartiger Inhalte üben Fachleute verstärkt Kritik an Sozialen Medien. "Das ist mitunter wirklich gruselig", sagt Heike Friedewald, Sprecherin der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention. Zu Jahresbeginn hatte eine französische Familie die Plattform Tiktok verklagt, nachdem eine Teenagerin sich selbst getötet hatte. Durch das Internet stünden Informationen auch in diesem Zusammenhang leichter zur Verfügung, fügt Ines Keita hinzu, Psychologin und stellvertretende Geschäftsführerin der Stiftung. Studien hätten bereits gezeigt, dass verstärkte Suchen nach bestimmten Suizidmethoden mit einem Anstieg von deren tatsächlicher Anwendung einhergingen. Dies betreffe auch die Debatte um assistierten Suizid: Eine Selbsttötung als nachvollziehbar oder als "letzten Ausweg" darzustellen, sei immer problematisch - zumal meist nicht klar sei, "ob wirklich alles versucht wurde". Es gebe immer neue spezialisierte Angebote und Behandlungsmöglichkeiten: Als Beispiel nannte Keita das Schmerzmittel Ketamin, das hierzulande seit zwei Jahren auch gegen Depressionen zugelassen ist. Die Debatte um Nachahmungstaten ist nicht neu. 1974 prägte der US-Soziologe David Phillips den Begriff "Werther-Effekt", angelehnt an den Roman, den Johann Wolfgang von Goethe 200 Jahre zuvor veröffentlicht hatte. In der Folge war es zu einem regelrechten "Werther-Fieber" gekommen - nicht nur zu rauschhafter Lektüre, sondern auch zu rund einem Dutzend belegter Selbsttötungen. Nach einer Debatte über "Fehllektüren" ergänzte der Dichterfürst selbst Anmerkungen im Buch, die das Verhalten und die Selbsttötung der Titelfigur problematisierten. Phillips konnte wiederum nachweisen, dass die Suizidraten anstiegen, wenn auf der Titelseite der "New York Times" über den Suizid einer prominenten Person berichtet worden war; am stärksten war der Effekt demnach beim Tod von Schauspiel-Ikone Marilyn Monroe 1962. In Deutschland hatte der Suizid von Nationaltorhüter Robert Enke 2009 ähnliche Auswirkungen: Noch zwei Jahre später schied pro Tag durchschnittlich eine Person mehr auf ähnliche Weise aus dem Leben, sagt Keita. Die Suizid-Methode oder Geschehensorte nicht zu benennen, ist laut Friedewald entscheidend für verantwortungsvolle Berichterstattung. "Menschen in einer Krise können sonst auf eine konkrete Idee kommen", erklärt sie. Dennoch geschieht dies immer wieder - zuletzt etwa im vergangenen Jahr. Der damalige Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kündigte an, bestimmte "Hotspots" sichern zu wollen, also Orte, an denen es besonders häufig zu Selbsttötungen kommt. Auch seriöse Medien erwähnten diese Stellen namentlich, zeigten mitunter sogar Bilder. Seit dem Tod Enkes habe sich aber einiges getan: So werde am Ende von Artikeln, TV-Beiträgen oder auch fiktionalen Geschichten verstärkt auf Hilfsangebote hingewiesen werde, sagt Friedewald. Dies entbinde allerdings nicht von verantwortungsvoller Berichterstattung: "Sinnvoll ist es, in Zweifelsfällen mit Expertinnen und Experten zu sprechen." Zuletzt stiegen die Suizidzahlen laut US-Studien auch im Zusammenhang mit der Serie "Tote Mädchen lügen nicht" an, die Netflix zwischen 2017 und 2020 zeigte. Die Hauptfigur Hannah nimmt sich in der Serie das Leben und erzählt in Rückblicken, wie es dazu kam. Auf Kritik stieß besonders eine dreiminütige Sequenz, in der die 17-Jährige ihr Leben beendet. Fachleute wiesen zudem schon damals darauf hin, dass ein echter Suizid endgültig ist - anders als es die Serie suggeriert, die stark mit Rückblicken und Tonbandaufnahmen der Verstorbenen arbeitet: Weder Genugtuung gegenüber Schulhof-Bullies noch Mitgefühl mit Hinterbliebenen können Betroffene noch erleben. Zudem seien schlimme Erfahrungen wie Mobbing, eine Scheidung oder ein Jobverlust beinahe nie die einzigen Auslöser für eine solch finale Handlung, sagt Psychologin Keita. Vielmehr seien Depressionen das Hauptrisiko für Suizidgedanken und -handlungen. Laut Weltgesundheitsorganisation WHO versterben acht Prozent der Menschen mit Depressionen durch Selbsttötung; bis zu 15 Prozent unternehmen einen entsprechenden Versuch. Und auf jeden vollendeten Suizid kommen insgesamt bis zu 20 Versuche. Eine unterschätzte Risikogruppe für Suizide sind nach Stiftungsangaben ältere Männer: Einerseits würden Depressionen noch heute häufig als Begleiterscheinung des Alters abgetan oder als Demenz verkannt. Andererseits seien Männer häufiger von Suchterkrankungen betroffen, die wiederum oft mit Depressionen einhergehen Zudem suchten sie sich seltener Hilfe als Frauen. Wichtig sei daher auch die Aufklärung über psychische Erkrankungen - zumal Depression zwar eine schwere Krankheit sei, die sich aber zumeist gut behandeln lasse. Erste Anlaufstellen für Betroffene könnten der Hausarzt oder die Hausärztin sein; in akuten - auch psychischen - Notfällen solle immer gleich der Notruf 112 zu wählen. Wenn Sie Suizidgedanken haben oder bei einer anderen Person wahrnehmen: Kostenfreie Hilfe bieten in Deutschland der Notruf 112, die Telefonseelsorge 0800 111 0 111 und das Info-Telefon Depression 0800 33 44 5 33. Weitere Infos und Adressen unter www.deutsche-depressionshilfe.de.

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