"Bromance" zwischen Reinhard Mey und Haftbefehl - Warum junge Deutschrap-Fans plötzlich auf einen Liedermacher abfahren

Von Jana Ballweber (KNA)

POPKULTUR - Seit Tagen ist eine Dokumentation über den deutschen Rapper Haftbefehl in aller Munde und eroberte die Streaming-Charts im Sturm. Der Hype treibt nun ungewöhnliche Blüten. Eine Chance zur Verständigung der Generationen?

| KNA Mediendienst

alt

"Babo - Die Haftbefehl-Story"

Foto: Netflix/KNA

Bonn (KNA) Deutschrap hat bei vielen Menschen einen sehr schlechten Ruf. Allzu brutal kommen viele Texte daher: Die Künstler rappen von Waffen, Drogen, Gewalt und Kriminalität; Frauen und queere Menschen sind oft Opfer von Spott oder Gewaltfantasien. Die Netflix-Doku "Babo - Die Haftbefehl-Story", die in der vergangenen Woche mit ihrem Erscheinen direkt in die Streaming-Charts schoss, ist auf den ersten Blick nicht unbedingt geeignet, diesen Ruf zum Positiven zu verändern. Die Regisseure Sinan Sevinc und Juan Moreno begleiten darin den deutschen Musiker Haftbefehl, der als einflussreichster Rapper Deutschlands gilt. Sie zeigen seine musikalischen Erfolge und sein künstlerisches Genie, aber auch sein Aufwachsen inmitten der Kriminalität von Offenbachs Straßen, seinen massiven Drogenkonsum und seine psychischen Abgründe. Kritiker und Publikum äußerten sich schockiert von den Einblicken, die die Doku gewährt, weil sie Aykut Anhan, wie Haftbefehl mit bürgerlichem Namen heißt, unter Drogeneinfluss zeigten. Viele andere schätzen den Film genau wegen dessen Authentizität. Nun hat die Doku aber einen zusätzlichen Effekt, der Fans wie Kritiker überraschen dürfte. In einer der eindrücklichsten Szenen, in denen Haftbefehl sichtbar an einem vorläufigen Tiefpunkt angelangt ist, lässt er aus seinem Smartphone ein Lied ertönen, das ihm sichtlich viel bedeutet und das er auswendig mitsingen kann: "In meinem Garten" von Liedermacher Reinhard Mey. 1970 erschienen, besingt das Lied unter anderem die Blumen und Tiere im Garten, die trotz Fürsorge, die das lyrische Ich ihnen widmet, verdorren oder verschwinden - eine Metapher für Einsamkeit und Verlust. Die Haftbefehl-Doku zeigt, wie diese Themen Anhan sein Leben lang prägten. Seine Kindheit war gezeichnet von einem abwesenden Vater, den er als Kind einmal am Suizid gehindert hatte, bevor er sich dann doch das Leben nahm, als Anhan 14 Jahre alt war. Ein Trauma, das er nie überwunden hat. Ausgerechnet das zarte, melancholische Stück des 82-jährigen Liedermachers Mey entwickelt sich nun unter Deutschrap-Fans zum Internetphänomen. Auf Tiktok oder Instagram posten junge, oft migrantische Haftbefehl-Fans Videos von sich, wie sie "In meinem Garten" hören oder selbst singen. Beim Musikstreaming-Dienst Spotify landet der Song in der Liste der meistgestreamten Songs in Deutschland am Montag auf dem 20. Platz - Haftbefehl selbst schafft es mit sieben Songs in die Top 20. Das zeigt: Viele Deutschrap-Fans feiern nicht einfach nur Brutalität und eindeutige Texte. Sie interessieren sich für Sprache und Poesie. Musikexperten verweisen immer wieder darauf, dass Deutschrap zwar oft explizit ist und drastische Themen in den Vordergrund stellt, aber trotzdem virtuos mit Sprache spielt und diese auch über die eigenen Fan-Gruppen hinaus prägt. So integriert Haftbefehl beispielsweise viele Vokabeln aus dem Türkischen oder dem Kurdischen in seine Texte und beeinflusst so die Jugendsprache - und damit nach und nach auch das Deutsche allgemein. Neben vielen Songs, die sich seiner kriminellen Vergangenheit widmen, nimmt er auch immer wieder sozialkritische Themen in seine Texte auf, etwa Rassismus oder Armut. Viele seiner Fans können sich mit Haftbefehls Kunst identifizieren, das zeigt nicht zuletzt auch sein enormer kommerzieller Erfolg. Doch augenscheinlich ist es auch die Liebe zur Sprache, die er mit seinen Fans teilt - sind die doch offenbar auch für Musik wie die von Reinhard Mey zu begeistern, die sich den großen Fragen des Lebens deutlich subtiler nähert. Hat diese Liebe zur Sprache also das Potenzial, Generationen zu verbinden? Immerhin gab Haftbefehl auf seiner Instagram-Seite bekannt, dass Reinhard Mey die Doku gesehen und sich bei ihm gemeldet habe. Der Liedermacher habe gezögert, seinen Song für die Doku zur Verfügung zu stellen, sich aber letztlich überzeugen lassen. Nun habe Mey ihm etwas gegeben, das tiefer geht als Zustimmung - "eine stille ehrliche Bestätigung: Dass man den Menschen hinter dem Bild, den Künstler hinter den Schlagzeilen, erst wirklich verstehen sollte, bevor man sich ein Urteil erlaubt". Möglicherweise ja der Beginn einer "Bromance", wie eine Männerfreundschaft neudeutsch gerne genannt wird. Zumal Teile der Biografie des Rappers an einen anderen deutschen Liedermacher erinnern. Auch Reinhard Meys Kollege Konstantin Wecker wurde in den Neunzigern wegen massivem Kokainmissbrauch zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Und trotzdem läuft die Musik von Konstantin Wecker auch im einen oder anderen gutbürgerlichen, deutschen Wohnzimmer. Doch noch sind nicht alle überzeugt von der verbindenden Wirkung des Rappers. Das CDU-geführte hessische Kultusministerium stellte sich auf Medienanfragen in der vergangenen Woche gegen eine Forderung des Stadtschüler*innenrats in Offenbach. Der wollte Haftbefehl im Unterricht behandeln - als kulturelles Lehrmaterial. "Wenn Schule ein Ort der Lebensrealität sein soll, dann darf sie nicht nur Goethe lesen, sondern auch Haftbefehl hören", so Cengizhan Nas, Vize-Stadtschulsprecher. "Seine Sprache ist roh, aber echt - sie zeigt, wie Jugendliche wirklich sprechen, fühlen und denken. Bildung darf das nicht ignorieren." Das hessische Kultusministerium sah das aber anders und erteilte dem Vorschlag mit Blick auf Anhans "Neigung zur Kriminalität" eine Absage.

Lesen Sie weiter auf www.KNA-News.de