Nürnberg (KNA) Diese (Film-)Geschichte hat alles, was es braucht: Eine junge Heldin und einen jungen Helden mit Haltung. Fiese Schurken, die auf den ersten Blick zu erkennen sind. Ein anrührendes Love-Interest - und dann noch weltpolitische Bedeutung. Doch trotz all dieser auf den ersten Blick besten Voraussetzungen wird daraus kein gut konsumierbarer, intelligent-unterhaltender Film. Er bleibt einem vielmehr im Halse stecken. Was daran liegt, dass es um Auschwitz geht, die Schoah und den ersten Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 1945/46. Der NDR hat daraus für die ARD ein Doku-Drama gemacht, in dem auch vieles stecken bleibt. Doch der Reihe nach. "Nürnberg 45 - Im Angesicht des Bösen" erzählt die Geschichte des vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 im Schwurgerichtssaal 660 laufenden Prozesses gegen die sogenannten Hauptkriegsverbrecher aus dem Blick der Auschwitz-Überlebenden Ernst Michel und Seweryna Szmaglewska. Ernst Michel ist 22, auf einem der Todesmärsche bei der Evakuierung des Konzentrationslagers gelang ihm die Flucht, jetzt arbeitet er als Reporter für die von den Amerikanern in ihrer Besatzungszone gegründete Nachrichtenagentur Dana und berichtet vom Prozess. Ernst Michel ist wohl der jüngste unter den Prozessreportern. Seine Artikel zeichnet er mit "Sonderberichterstatter Ernst Michel. Auschwitz-Nummer 104995". Die fast unmittelbare Berührung mit der Führungselite des NS-Regimes wird für ihn zum Schock, den er nur schwer aushält. Nur wenige Meter entfernt sitzt Hermann Göring in einem babyblauen Anzug, der entfernt an eine Fantasie-Uniform ohne Abzeichen erinnert. Und alle Angeklagten erklären sich für "nicht schuldig". Auch Seweryna Szmaglewska ist schockiert. Für die 29-jährige Überlebende von Birkenau, die im Prozess als Zeugin aussagen wird, ist die schon wieder eingezogene Normalität des luxuriösen Nürnberger Grand-Hotels alles andere als normal. Dass die Richter, Staatsanwälte und andere hochrangige Menschen rund um den Prozess hier am Vorabend auch noch einen Ball gefeiert haben, stößt sie sichtlich vor den Kopf. Auf Seweryna Szmaglewska wartet auch in Nürnberg eine harte Zeit. Während Michel tagtäglich schreiben kann, um seinen Dämonen zu begegnen, muss sie warten. "Not today", heute nicht, bescheidet ihr Mal um Mal der Militärpolizist, während sie sich in einem Warteraum auf ihre Vernehmung vorbereitet, ihre Aussage aber immer wieder verschoben wird. Die wenigen Zeuginnen und Zeugen in Nürnberg, lernt sie, spielen keine Hauptrolle; sie sind lediglich als "Ergänzung" zu den Akten und Dokumenten vorgesehen. Außerdem quält sie die Erinnerung an Witold, einen jungen Architekten, den sie im Lager kennengelernt hat und von dem sie nicht weiß, ob er noch lebt. Jonathan Berlin spielt seinen Ernst Michel mit wacher Angst und tiefer Ernsthaftigkeit, auch Katharina Stark besticht als trotzig-bestimmte Seweryna Szmaglewska. Beide zeigen dem geschäftigen medialen Treiben in Nürnberg: Wir gehören nicht dazu - und dürften damit ziemlich nah an ihren realen Vorbildern sein. Denn an diesem Dokudrama ist fast nichts Drama, sondern alles Doku. Der reale Ern(e)st Michel (1923-2016) ging nach dem Prozess in die USA und arbeitete für die Hilfsorganisation United Jewish Appeal. Seweryna Szmaglewska (1916-1992) wurde in ihrer Heimat Polen eine erfolgreiche Schriftstellerin. Ihre Bücher "Czarne Stopy" (Schwarze Füße) und "Dymy nad Birkenau" (Die Frauen von Birkenau) sind heute Pflichtlektüre an polnischen Schulen. Selbst die Geschichte stimmt, dass Göring den "jungen Reporter, der Auschwitz überlebt hat", kennenlernen will. Der NS-Potentat (gespielt von Francis Fulton Smith) sieht sich als Opfer, dem "die Geschichte eines Tages recht geben" wird und lässt seinen Anwalt Stahmer (Wotan Wilke Möhring) auf Michel los. Der willigt nach längerer Überlegung schließlich ein, macht in der Zelle aber auf dem Absatz kehrt, als ihm Göring jovial die Hand entgegenstreckt. Seweryna Szmaglewska wird auch Witold wiedersehen, der überlebt hat, von ihrer Aussage in Nürnberg liest und kommt. Das alles sind starke Szenen, die aber durch das entschiedene Sowohl-als-Auch des Films ihre Stärke gar nicht wirklich entfalten können. Denn auf das Bisschen nicht mal sonderlich fiktionale Spielhandlung trifft mindestens ebenso viel Dokumentarisches. Historische Aufnahmen des Prozesses, damals ein Medienereignis ersten Ranges, mischen sich mit einem TV-Interview von Ernst Michel aus dem Jahr 2005. Jacek Wiśniewski, der Sohn von Seweryna Szmaglewska, ist nach Auschwitz gereist und wird dort interviewt. Michels Tochter Lauren Shachar erinnert sich im Prozesssaal 660, der heute allerdings anders aussieht als 1945/46, an ihren Vater. Auch diese Stimmen haben enorm viel Wucht, werden so aber eher zu ernsten Streiflichtern. Auch sie hätten mehr verdient. Und dann ist da noch der Umgang mit der Farbe. Ja, es gibt Farbaufnahmen vom Prozess, aus den Lagern (meist nach der Befreiung), von Auftritten Hitlers und all der anderen. Doch hier ist alles in Farbe getaucht, nachkoloriert bis hin zu Görings babyblauer Montur. Dieselbe milde Patina liegt auf den Spielszenen, es soll, kann, muss alles ineinander gehen. Und es passt, keine Frage. Ausdrücklich ausgespart bleiben nur die Bilder der Opfer im Lager, beim Transport, die Leichenhaufen. Sie gibt es im gewohnten Schwarzweiß. Der Bruch mit der Konvention ist gewollt. Aber ist er auch klug in einer Zeit, wo Fakten, Mythen, Lügen und alle Zwischenstufen farblich auch ganz real ineinander übergehen?