Breaking Good - AppleTV stellt in "Pluribus" die großen Fragen nach Glück und Unglück

Von Jan Freitag (KNA)

SERIE - In "Pluribus" lässt Vince Gilligan ein Glücksvirus wüten, gegen das ausgerechnet die Zynikerin Carol immun ist. Ihr Kampf gegen das vermeintlich Gute ist neun heiter-dystopische Folgen wert. Und ein paar Fernsehpreise.

| KNA Mediendienst

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"Pluribus"

Foto: AppleTV/KNA

Bonn (KNA) Die Philosophie des Glücks hat grob gesehen zwei Pole. Wenn alle nur an sich denken, besagt der egoistische, ist irgendwie auch an Schwächere gedacht. Wenn alle an andere denken, besagt der altruistische, ist nicht vor allem an Stärkere gedacht. Die zynische Bestsellerautorin Carol zählt zur ersten Gruppe. Und der fühlt sie sich sogar noch ein bisschen zugehöriger, als die zweite plötzlich nahezu jeden und jede auf Erden umfasst. Rund acht Milliarden minus 13, um genau zu sein. Denn bis auf dieses gute Dutzend Zufallsverschonte in aller Welt hat ein Glücksvirus die gesamte Menschheit infiziert. Die Symptome bestehen darin, dass Befallene ein barmherziges Gemüt mit aller Welt teilen und bedingungslos füreinander da sind. Da fallen eigennützige Außenseiter wie Carol natürlich auf. Doch der Reihe nach. Während sie kindlichen Fans kurz zuvor gerade den vierten Teil ihrer kühlkalkulierten Romantasy-Reihe "Wycaro" signiert, entkommt der geheimnisvolle Glücks-Erreger aus einem Bio-Labor und tritt seinen Siegeszug um den Globus an. Als die immune Carol von ihrer Lesereise heimkehrt, hat es somit auch ihren Wohnort erreicht: Albuquerque. Und wer die vorigen zwei Jahrzehnte nicht unter Nomaden ohne Internet verbringen musste, denkt beim Namen dieser Stadt natürlich sofort an Walther White. Den Chemielehrer, den Vince Gilligan dort 2008 zum Drogenbaron der Serienlegende "Breaking Bad" aufsteigen ließ und auch mit dem Spin-Off "Better Call Saul" Kultstatus erreichte. Dass Carol den Ausbruch der bizarren Pandemie nun ebenfalls in Albuquerque erlebt, ist folglich kein Zufall. Zwölf Jahre nach Whites unrühmlichem Ende hat Gilligan den nächsten Geniestreich kreiert. Er heißt "Pluribus". Überm US-Wappen beschreibt der lateinische Dativ von "viele" die Staatsdevise, 50 Staaten und ein Vielfaches an Mentalitäten im Streben nach Glück zu einigen. Ab heute nimmt AppleTV+ diesen "Pursuit of Happiness" der Unabhängigkeitserklärung allerdings etwas genauer als 1776 geplant. Das Virus macht Befallene ja nicht nur glücklich; sie werden zum mental verdrahteten Kollektiv, dessen Seelenheil von dem aller einzelnen Glieder abhängt. Für Philanthropen ist das der Himmel auf Erden, doch für Misanthropen das Fegefeuer darunter. Schlimmer noch: Erstere sind einhellig darum bemüht, letztere mit ihrer guten Laune zu impfen. "Es fällt dir vielleicht schwer, das zu glauben", säuselt Carols verbissen fürsorgliche Nachbarin Zosia (Karolina Wydra) über den Ausbruch, "aber gestern war der größte Tag der Menschheitsgeschichte". War er nicht. Nicht für Carol. Und wie sie fortan versucht, der solidarischen Hölle ringsum zu entkommen - das macht "Pluribus" zum neunteiligen Anwärter auf mehrere Regalmeter Fernsehpreise. Grund dafür ist nicht nur Gilligans funkensprühende Idee und was sein Writer's Room sowie die wechselnden Regisseure daraus machen. Das größte Highlight dieser heiteren Dystopie ist Rhea Seehorn. Als Kollegin von Walther Whites Anwalt war ihre Kim Wexler sechs Staffeln das rechtschaffene Korrektiv des windigen Jimmy McGill alias ("Better Call") Saul Goodman. Jetzt wechselt sie gewissermaßen die Seiten und ist allein unter Moralaposteln eine Art gutes Gewissen des Schlechten. Mit ihrer Nicht-Frisur überm Nicht-Makeup gelingt es Seehorn, Carols Gemütszustände zwischen Rage und Resignation, Spott und Verzweiflung, Kampfgeist und Missmut in einen Gesichtsausdruck zu packen. Es ist eine Nicht-Mimik, die Carols Gegenwart gleichermaßen kommentiert und ignoriert. Schließlich besteht ein brillanter Plot-Twist der genialen Serie darin, dass ihre Wut Menschenleben kostet. Der erste Ausbruch allein elf Millionen. Ursache und Wirkung werden hier natürlich nicht verraten. Nur so viel: Mit jedem Impulskontrollverlust von Carol entvölkert sich die Erde ein bisschen mehr, weshalb Carol halbe Folgen lang allein durch die USA streift. Zum Glück hat dieses deprimierend-amüsante Ein-Personen-Kammerspiel aber noch mehr zu bieten als seine Hauptdarstellerin. Darunter die Erörterung der Frage, welche Welt eigentlich lebenswerter ist: Die traurige voller Krisen und Kriege, digitalem und analogem Hass, wie sie vorm (nebenbei höchst originell erklärten) allgemeinen Glücks-Ausbruch herrschte? Oder die fröhliche, neue - frei von Gewalt und Konflikten sowie Streit und Lügen? Fünf nichtinfizierte Schicksalsgenossen, mit denen sich Carol zu Beginn der zweiten Folge trifft, beantworten sie jedenfalls deutlich anders als ihre Schicksalsgenossin. Wobei Gilligan wie in "Breaking Bad" oder "Better Call Saul" gar nichts beantworten, geschweige denn moralphilosophisch erklären will. Er lässt die Figuren und ihre äußeren Umstände lieber so aufs Publikum wirken, dass es sich seinen eigenen Reim darauf macht - oder eben nicht. Denn auch wer keine Lust aufs Erdenken nachhaltiger Sinnzusammenhänge hat, wird von "Pluribus" trotzdem nachhaltig unterhalten. Und dafür streift der Showrunner durch vergleichbare Near-Future-Szenarien, als würde die "Truman Show" ein "Walking Dead" ereilen. Er macht Zeitreisen zur Sixties-Psychose "The Prisoner", hält in Disneys postapokalyptischem "Paradise", begegnet Will Fords nervtötendem Endzeit-Einsiedler "Last Man on Earth" und lässt Carol durch Mike Flanagans "Life of Chuck" tanzen - wobei die Deutung, "Pluribus" kommentiere den Hedonismus der Neunziger natürlich auch absolut zulässig ist. Auch damals fuhr unsere Zivilisation schließlich mit Vollgas Richtung Untergang. Sie hatte dabei nur viel mehr Spaß. Was besser ist, weiß nicht mal Carol. Ihrem Erkenntnisprozess beizuwohnen, bereit jedoch mehr Frohsinn als jede Loveparade durchs Spiegelkabinett trügerischer Glückseligkeit.

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