Mit Empathie und Engagement - Thilo Mischke zeigt Verbrechen des Assad-Regimes in Syrien

Von Joachim Huber (KNA)

DOKU - Der Assad-Clan ist gestürzt, Syrien sucht seinen Weg in die Zukunft. Eine ProSieben-Doku zeigt, wie viele Verletzungen das Land dafür aufarbeiten muss und gewährt einen Blick in die Folterkeller des Regimes.

| KNA Mediendienst

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"THILO MISCHKE. Spurlos verschwunden"

Foto: ProSieben/Joyn/KNA

Berlin (KNA) Ja, es wird noch einige Zeit dauern, bis sich Thilo Mischke aus dem Wirrwarr um sein Nicht-Engagement als Moderator des ARD-Kulturmagazins "Titel, Thesen, Temperamente" um die Jahreswende 2024/2025 wird lösen können. Aber dieser Zeitraum wird umso kürzer sein, je öfter er mit Dokumentationen wie "Thilo Mischke. Spurlos verschwunden - der Deutsche aus dem Folterknast" die Aufmerksamkeit bei ProSieben auf sich ziehen wird. Die 90-minütige Dokumentation stärkt Mischkes Identitätsmarker als investigativer Journalist. Im Intro heißt es, dies sei kein Film über die aktuelle Situation in Syrien. "Es ist die Geschichte meines Freundes Martin Lautwein. Ein Mensch, der unschuldig in ein Foltergefängnis kam - und überlebte." Lautwein, von Beruf Gerüstbauer und 27 Jahre alt, bricht 2018 von Berlin in den Irak auf. Er arbeitet als Techniker für eine von der WHO anerkannte Hilfsorganisation. Gemeinsam mit einem englischsprachigen Kollegen reist er weiter nach Nordsyrien, um beim Aufbau medizinischer Infrastruktur zu helfen. In der Grenzstadt Qamischli geraten beide in eine Kontrolle von Beamten des Assad-Regimes; sie werden festgenommen, nach Damaskus geflogen und in die "Palestine Branch" eingeliefert. Martin Lautwein wird 48 Tage im Gefängnis des syrischen Militärgeheimdiensts festgehalten. Er wird misshandelt und muss die Folterungen anderer Gefangener miterleben. "Palestine Branch" ist ein Ort brutaler Erniedrigung in der absoluten Herrschaft von Präsident Baschar al-Assad. Der Gefürchtetste unter den Folterknechten ist einer, den sie nur den "Doktor" nennen. Erst ist er ein Phantom, dann bekommt er durch die Recherchen von Mischke und Lautwein in Beirut, wohin viele Syrer vor der Assad-Diktatur geflohen sind, einen Namen. Wie groß die Reichweite des Regimes bis heute, zeigt sich schon daran, dass Gesprächspartner nur anonymisiert Auskunft geben. Aber alle Recherchen zu Syrien enden eben an den Grenzen des Libanon. Mischke arbeitet für die Doku wie schon früher im Presenter-Stil. Er ist Teil der Dokumentation, doch zum Glück keiner, der sich in den Vordergrund schiebt. Der Journalist stellt - behutsam - die Fragen, die auch das Publikum an Lautwein und andere Betroffene stellen würde. Die Erkenntnismethode der Dokumentation, die mehr einer Reportage gleicht, sind Anschauung, Personalisierung, das Erleben, das Hinsehen, Hinhören - und ermöglichen so auch das sinnliche Erfassen der verschiedenen Dimensionen dieses komplexen Themas. Mischkes Film arbeitet strikt im Präsens, der Bezugsrahmen durch den Assad-Terror wird im Berichtston aufgezogen, ohne dass umfangreiches Archivmaterial bemüht wird. Lautweins Ambitionen gehen dabei über die Suche nach seinen Folterknechten hinaus. Als erster Deutscher hat er Verantwortliche des syrischen Regimes angezeigt - wegen Folter und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dazu hat er sich einer Anzeige von syrischen Folteropfern angeschlossen, die vom European Center for Constitutional and Human Rights bereits 2017 beim Generalbundesanwalt eingereicht wurde. Er will damit erreichen, dass die deutsche Justiz die Verbrechen des Regimes unter Baschar al-Assad aufklärt und ihn, der nach seiner Flucht im Moskauer Exil lebt, zur Verantwortung zieht. Anderthalb Millionen Syrer sollen während der Assad-Jahre eingesperrt gewesen sein, 100.000 bis 200.000 gelten als verschwunden. Hinrichtungen waren an der Tagesordnung. Dafür braucht es Opfer, die die Untaten bezeugen und Täter, die sie eingestehen - also Lautwein und den "Doktor". Der ist verschwunden, aber vielleicht lässt er sich in Damaskus aufspüren. Mischke und Lautwein profitieren davon, dass die Rebellenallianz HTS im Herbst 2024 den Tyrannen Assad stürzt - der Weg in die syrische Hauptstadt, zur "Palestine Branch" ist frei. Nur wenige Tage sind seit dem Umsturz vergangen, die Wärter sind geflüchtet, die Zellen leer, die meisten Unterlagen verschwunden oder verbrannt. Für Lautwein bleibt diese Rückkehr zum Ort seiner Qual auch sieben Jahre nach seinem Freikommen eine Achterbahn schmerzvoller, traumatischer Erinnerung. Schluchzen, Tränen, Umarmungen mit Mischke - das ist fern aller Peinlichkeit. Lautwein versuchte zwei Suizide in dieser Hölle, wo Männer sich aufeinanderlegen mussten, um schlafen zu können. Lautwein hielt durch, kooperierte nicht mit den Schergen des Systems. Und als ob das Grauen nicht mehr zu steigern wäre, wenn die Erinnerung Realität wird, kommt die Dokumentation zu neuem Schrecken: zu Karim. Der heute 29-Jährige war für mehr als drei Jahre in anderen gefürchteten Gefängnissen wie Saydnaya außerhalb von Damaskus eingekerkert. Wieder lange Kamerawege durch Gänge und Zellen, eine Spurensuche, die auch andere unternehmen, um Unterlagen und Akten zu sichten. Fotos vermisster Angehörigen sind an die Gefängnismauern geklebt - die Menschen wollen Gewissheit über Leben und Tod. Von den Tätern findet sich aber keine Spur. Die schaurigen Erzählungen von Karim, oft Arm in Arm mit Martin Lautwein, lassen keinen Zweifel mehr an diesem System der Entmenschlichung. Dass es beendet werden konnte, nennt Mischke angesichts des bezeugten Grauens "keinen schönen Sieg". Und er fragt sich, wie die Betroffenen aus ihren Traumata herausfinden können, wie Syrien mit dieser Vergangenheit seine Gegenwart bewältigen und seine Zukunft gewinnen kann. Karim immerhin, so wird im Abspann erwähnt, hat im Libanon geheiratet und will dauerhaft in seine Heimat zurückkehren. Und auch die Bilder der den Sturz des Assad-Clans nach 54 Jahren feiernden Syrerinnen und Syrer verbreiten Optimismus. "Thilo Mischke. Spurlos verschwunden - der Deutsche aus dem Folterknast" erzählt Menschengeschichte. Menschenverachtende Geschichte, wie sie von Menschen gemacht wird, und Geschichte(n) von Menschen, die diese Menschenverachtung überlebt haben. Wie gut, dass Thilo Mischke, seine Protagonisten und sein Team sie mit Empathie und Engagement aufgezeichnet haben. Jetzt muss nur noch ProSieben unter der neuen Führung des italienischen Medienkonzerns MFE und seines Chefs Pier Silvio Berlusconi dem kritischen, investigativen Journalismus weiterhin Mittel und Sendeplätze zur Verfügung stellen.

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