Steinbruch der guten Ideen - Gründer Jimmy Wales erklärt Erfolg von Wikipedia mit Vertrauen

Von Jana Ballweber (KNA)

SACHBUCH - Im Zeitalter von Fake News und Desinformation wird ein Ort im Internet immer wichtiger: Wikipedia dient vielen als Anlaufstelle für Fakten und Wissen. Ihr Gründer glaubt, das Erfolgsgeheimnis entschlüsselt zu haben.

| KNA Mediendienst

alt

Wikipedia-Gründer Jimmy Wales

Foto: Bianca Otero/Imago/KNA

München (KNA) Ein bisschen schlechtes Benehmen gehört in Zeiten, in denen die Aufmerksamkeit des Publikums hart umkämpft ist, zu jeder guten Buch-Promo-Tour dazu. Einfach nur ein interessantes Buch zu schreiben oder eine interessante Person zu sein, reicht schon lange nicht mehr aus, um die eigenen Zeilen unter die Leute zu bekommen. Das hat sich wohl auch der Wikipedia-Gründer Jimmy Wales zu Herzen genommen, als er dem Journalisten Tilo Jung das wohl kürzeste Interview seiner Karriere bescherte. Denn als Jung das Gespräch mit Wales mit der Frage eröffnete, ob er eigentlich der Gründer oder der Co-Gründer von Wikipedia sei, erwiderte Wales, dass das eine dumme Frage sei, und verließ das Studio nach nur einer Minute wieder. Nicht gerade höflich, doch Wales schaffte es mit seinem merkwürdigen Auftritt in die Nachrichtenspalten - und mit ihm auch sein Buch "Trust: Die 7 Regeln des Vertrauens oder Wie man Dinge von Dauer schafft". Knapp 25 Jahre ist es her, dass die Online-Enzyklopädie an den Start ging. Im Januar 2001 startete ein Projekt, dessen Erfolg Wales zufolge mehr als unwahrscheinlich erschien: "Vor vielen Jahren, als die Welt noch dabei war, diese seltsame neue Sache namens Wikipedia kennenzulernen, waren die meisten Beobachter überzeugt, dass es sich dabei um eine verrückte Idee handelte", berichtet Wales. Das Prinzip, bei dem jeder und jede Artikel für das Lexikon schreiben oder bearbeiten konnte, erschien einfach viel zu anfällig für Trolle oder Menschen mit bösen Absichten. Dennoch wuchs Wikipedia rasant und war zwischenzeitlich auf der Rangliste der meistgeklickten Webseiten auf Platz fünf. Wie konnte das passieren? Wales hat einen ganz konkreten Punkt als Erfolgsgeheimnis ausgemacht: Vertrauen. Die Menschen vertrauen der Wikipedia und die Wikipedia vertraut den Menschen. Natürlich werden alle Fakten und Quellen zurecht kritisch hinterfragt. Doch wer die Antwort auf eine bestimmte Frage sucht, Informationen über ein Thema sammeln oder sich einen ersten Eindruck verschaffen will, liegt bei Wikipedia erstaunlich oft richtig. In seinem Buch dröselt Wales deshalb in sieben Schritten auf, was aus seiner Sicht dazu geführt hat, dass die Menschen Wikipedia vertrauen können. Da wäre etwa die Transparenz. Alle Änderungen an allen Wikipedia-Artikeln werden systematisch und öffentlich nachgehalten. Wer das Gefühl hat, dass ein Artikel verfälscht wurde, fehlerhaft ist oder wichtiger Kontext fehlt, kann das Problem selbst beheben. Die Diskussionsseiten zu jedem Artikel zeigen, wie Entscheidungen unter den Redakteuren getroffen wurden und bieten ebenfalls die Möglichkeit, sich daran zu beteiligen. In anderen Kapiteln lobt Wales außerdem die Höflichkeitsregeln, mit denen die Menschen, die aktiv an Wikipedia beteiligt sind, sich bei den Diskussionen begegnen. Er wirbt für einen grundsätzlichen Vertrauensvorschuss und für weltanschauliche Vielfalt in den Teams. Dass all diese Faktoren zum Erfolg von Wikipedia beigetragen haben, belegt Wales sowohl mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, historischen Beispielen als auch mit unzähligen Anekdoten aus der Geschichte der Wikipedia, die er mit Redakteuren, Fans und Kritikern erlebt hat. Das Buch ist das Aufbäumen eines Mannes, der an das Gute im Menschen glaubt und am Zustand der Welt zu verzweifeln scheint. So wie die Nutzer Wikipedia Vertrauen entgegenbringen, so soll die Wikipedia auch den Nutzern Vertrauen entgegenbringen. Und Wales hofft, für dieses Geben und Nehmen die Grundregeln entschlüsselt zu haben. Man merkt dem Buch an, dass der Wikipedia-Gründer sich Mühe gibt, all die Regeln, die in der Wikipedia gelten, und all die hehren Grundsätze, die er für Vertrauen für unerlässlich hält, in seinem Buch umzusetzen: Fakten müssen belegt, Meinungen als solche gekennzeichnet werden. Wo er an der einen Stelle darauf hinweist, dass es vertrauensfördernd sein kann, Fehler einzugestehen, tut er das an anderer Stelle im Buch selbst und hält fest, dass natürlich auch Wikipedia nicht ohne Fehler ist - weder die Artikel selbst noch die Maschinerie dahinter. Ob diese Selbstkritik weit genug geht, um Wales Vertrauen entgegenzubringen, muss jeder Leser für sich selbst entscheiden. Wales betont wieder und wieder, dass die konstruktive Gesprächskultur unter den Wikipedianern eines der Erfolgsgeheimnisse des Projekts sei. Doch immer wieder gibt es in der deutschsprachigen Sektion ganz andere Berichte, die von einer für Neulinge nur äußerst schwer zu navigierenden Diskussionskultur sprechen. Auch die Anfälligkeit für systematische Manipulationsversuche von Rechts - wie sie der SWR-Podcast "Sockenpuppenzoo" kürzlich aufgezeigt hat -, spricht Wales nicht an. Dass er selbst das Gebot der Höflichkeit im Interview mit dem Journalisten Tilo Jung so substanziell verletzt hat, trägt ebenfalls nicht gerade zur Überzeugungskraft bei. Denn mit seinen sieben Thesen zum Vertrauen will Wales im Buch nicht nur den Erfolg von Wikipedia erklären. Er will auch eine Schablone für eine gelingende Gesellschaft, für eine bessere Diskurskultur und letztlich für die Rettung der Demokratie liefern. Dass jemand, der mit einer verrückten Idee, an die zunächst niemand glaubte, so riesigen Erfolg hatte, keine kleineren Brötchen backt, ist dabei nicht einmal das Problem. Die Krise der Demokratie braucht schließlich dringend Träume, Utopien und Ideen für eine bessere Zukunft. Es ist bloß noch keineswegs ausgemacht, dass Wikipedia die Stürme übersteht, die gegenwärtig über sie hinwegfegen. Elon Musk schießt immer wieder gegen das Projekt, hat mit Grokopedia einen Gegenangriff gestartet und könnte dafür sorgen, dass sich konservative Stimmen nicht mehr daran beteiligen - eine selbsterfüllende Prophezeiung im Hinblick auf die Vorwürfe einer linken, progressiven Verzerrung. Der Pool der Redakteure altert mit dem Projekt und ausreichend Nachwuchs ist nicht in Sicht. Und nicht zuletzt ist das Problem der KI-generierten Text kaum ansatzweise angegangen, um die Qualität der Enzyklopädie für die Zukunft sicherzustellen. Nichtsdestotrotz lohnt sich die Lektüre von "Trust" - nicht bloß, weil Wales die "dumme Frage", die ihn im Interview mit Jung so erzürnt hat, auf Seite 156 selbst beantwortet. Für ein breites Publikum liefert ees den Optimismus, den die krisengebeutelte Welt gerade so dringend braucht. Und auch für Entscheider in der Politik oder in Medienhäusern tummelt sich dort ein ganzer Haufen an brauchbaren Ideen. Denn egal ob Wikipedia letztlich als Leuchtfeuer für Vertrauen im 21. Jahrhundert taugt: Was Jimmy Wales über Vertrauen zusammengetragen hat, kann ein Ideen-Steinbruch für ein ganz anderes Wissensprojekt, das derzeit in einer Krise steckt, werden: für den unabhängigen Journalismus. Einen Journalismus, dem die Menschen genug Vertrauen entgegenbringen, dass er zwischen algorithmisch befördertem Populismus und KI-Lügen seinen Platz findet. Nicht, weil er sich einreiht, sondern weil er selbstkritisch und selbstbewusst, inklusiv und dialogorientiert, persönlich und universell über das Weltgeschehen informiert. Von Wikipedia lernen, heißt vertrauen lernen.

Lesen Sie weiter auf www.KNA-News.de