München (KNA) Seit dem Sommer 2022 blickt die ARD in der Porträt-Reihe "Being" auf große Sportlerkarrieren zurück - anhand von Interviews mit den Protagonisten, ihren Wegbegleitern und Expertinnen und Experten sowie umfangreichem Archivmaterial. In drei bis fünf Folgen werden dabei auch Lebenstiefpunkte thematisiert, ohne dass der grundsätzliche Charakter der Würdigung verloren geht. Die meiste Aufmerksamkeit unter den "Being"-Produktionen hat bisher der von Annette Baumeister, Anna Grün, Ulrike Schwerdtner gedrehte Dreiteiler über Jérôme Boateng bekommen. Der ehemalige Star des FC Bayern hatte im September sein Karriereende verkündet, nachdem er in den vergangenen Jahren kaum noch auf dem Rasen gestanden hatte. Das Ausmaß der Debatte erklärt sich vor allem dadurch, dass Boateng zuletzt jenseits des Platzes für Schlagzeilen gesorgt hatte: 2024 verurteilte ihn das Landgericht München rechtskräftig wegen Körperverletzung. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass er die Mutter seiner Kinder geschlagen hatte. In einem anderen Ermittlungsfall zu Körperverletzung - betreffend eine andere Ex-Freundin - stellte die Staatsanwaltschaft München 2025 das Verfahren ein, unter anderem, weil "die Geschädigte selbst als Zeugin nicht mehr zur Verfügung steht". Die Frau beging 2021 Suizid. Wenige Tage zuvor hatte Boateng der "Bild"-Zeitung ein Interview über die Beziehung gegeben, in dem er seine Ex-Partnerin herabwürdigte. Daraufhin sah sich die damals 25-jährige in den Sozialen Medien mit Hetze und Drohungen konfrontiert. Die aktuelle Kritik an der ARD-Doku kommt aus unterschiedlichen Richtungen. Markus Hennig, Anwalt der Familie der Verstorbenen, hatte der Deutschen Presse-Agentur vor Veröffentlichung des Dreiteilers gesagt, dass die Familie gegenüber den Filmemacherinnen die "eindeutige Bitte" formuliert habe, den Fall der Verstorbenen nicht aufzugreifen - und ihren Namen gar nicht zu verwenden. Hätte der Dreiteiler das Thema aufgreifen können, ohne den Namen zu erwähnen? Ein ARD-Sprecher sagt dazu auf KNA-Anfrage, der Tod der Ex-Freundin sei "Gegenstand breit geführter gesellschaftlicher Debatten" gewesen und werfe "Fragen zu öffentlicher Verantwortung und medialen Dynamiken auf, die für das Verständnis der gesamten Geschichte relevant sind". Der Sprecher sagt auch, man habe den Wunsch der Familie, den Namen und die Person der verstorbenen Ex-Freundin "außen vor zu lassen, sehr ernst genommen". Die Doku beziehe sich daher "ausschließlich auf bereits öffentlich bekannte, journalistisch überprüfbare und notwendige Informationen". Wenn Politiker betonen, sie hätten etwas "sehr ernst genommen", ist das meist ein Hinweis darauf, dass darauf keine Taten folgten. Die Antwort der ARD steht in dieser Tradition. Mehrere Personen, die in dem Mehrteiler zu Wort kommen, haben mittlerweile öffentlich kritisiert, dass die für die Doku ausgewählten Passagen die inhaltliche Essenz ihrer Interviews mit den Filmemacherinnen nicht widerspiegeln. Unter den Kritikerinnen ist Gabriela Keller. Sie ist Co-Autorin eines Reports über die körperliche und psychische Gewalt von bekannten Fußballern gegen Frauen, der 2022 in verschiedenen Fassungen bei "Correctiv" und in der "Süddeutsche Zeitung" erschienen ist. Keller wirft den Mehrteiler-Autorinnen im "Spiegel" vor, "die wesentlichen Fakten, die die Erzählung von Boateng einordnen würden", kämen "praktisch nicht vor". Die vorhandenen Dokumente aus dem Landgerichtsverfahren seien nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt worden: "Es gab Zeugen, die die Übergriffe mit angesehen haben. Es gab Fotos von ihren Verletzungen und ärztliche Berichte dazu. Das war keine 'He-said-she-said'-Situation, sondern es gab sehr konkrete Belege." Die Produzentin und Co-Autorin Anna Grün weist diese Kritik auf KNA-Anfrage zurück: "Die Dokumentation bildet alle Vorwürfe ab, die durch das letztinstanzliche Urteil bestätigt wurden. Diese Sachverhalte haben wir im Film klar benannt, kontextualisiert und journalistisch eingeordnet. Elemente, die im Urteil ausdrücklich als nicht belastbar eingestuft wurden - darunter Fotos, ärztliche Unterlagen sowie einzelne Zeugenaussagen - konnten wir aus rechtlichen und journalistischen Gründen nicht als belegte Tatsachen wiedergeben." Die ARD sagt in diesem Zusammenhang, es entspreche "dem Grundsatz des Rechtsfriedens", Sachverhalte, "die nicht zu einer Verurteilung geführt haben", nicht erneut aufzugreifen. Mit dieser Replik konfrontiert, sagt Keller: "Natürlich kann man sagen, weswegen ein prominenter mutmaßlicher Gewalttäter angeklagt war. Das machen Medien ständig. Es wäre doch eigenartig, wenn man das praktisch für immer unter den Teppich kehren müsste." Man müsse dann eben klar auseinander halten, was sich vor Gericht erhärten ließ und wegen welcher Vorwürfe jemand verurteilt worden sei. Keller betont, dass sich ihre Kritik nicht nur auf den Umgang mit gerichtlichen Vorwürfen bezogen habe. "Es gab weitere Hinweise auf häusliche Gewalt, und wie es heute hinlänglich bekannt ist, landen die meisten Vorwürfe gar nicht erst vor Gericht." Darauf könnten Journalisten eingehen, wenn sie die Regeln der Verdachtsberichterstattung einhielten. In der bisherigen Debatte um den Dreiteiler haben an der Produktion Beteiligte sowie ARD-Mitarbeiter auf Kritik unter anderem reagiert, indem sie auf die Grenzen des "Being"-Formats hinwiesen. Regisseurin Baumeister, 2021 gemeinsam mit ihrem Co-Autor Willfried Huismann für "Colonia Dignidad - Aus dem Innern einer deutschen Sekte" mit dem Robert-Geisendörfer-Preis der Evangelischen Kirche ausgezeichnet, sagte in der "Süddeutschen Zeitung", so ein "Being-Format versteht sich nicht als Investigativformat." Und ein Social-Media-Mitarbeiter der ARD-Mediathek räumte bei Instagram ein, dass man "der Opferperspektive in so einer Sendung praktisch nicht gerecht werden" könne. Die zentrale Frage lautet daher: Warum musste der Dreiteiler überhaupt in der Reihe "Being ..." erscheinen? In diesem Format wurden neben Boateng bisher Jan Ullrich, Michael Schumacher, Franziska van Almsick und, anlässlich ihres 60. Geburtstages in dieser Woche, Katarina Witt porträtiert. Boateng steht hier in einer Reihe mit Personen, deren Status er kaum erreicht. Die konkreten Fragen, ob man den Dreiteiler unbedingt in der "Being"-Reihe platzieren musste und warum er nicht Format-unabhängig in Auftrag gegeben wurde, ließ die ARD auf KNA-Anfrage unbeantwortet. Für Sender sind Formatierungen sinnvoll, weil etablierte Sendungsmarken die Aufmerksamkeit für ein Thema steigern können. Es ist daher nachvollziehbar, dass Redaktionen sich entscheiden, ein Thema in einem bestimmten Format aufzugreifen. Allerdings ist der Anteil dokumentarischer Produktionen, die nicht formatiert sind - also nicht Teil einer Reihe oder Subreihe -, gering. Für regelmäßig ausgestrahlte Formate gibt es in der ARD ein Mengengerüst: Hier werden jährlich Vorgaben festgelegt, die die Landesrundfunkanstalten anteilig erfüllen müssen. Dadurch bleibt weniger Spielraum, Inhalte ohne feste Formatvorgaben umzusetzen. "Eine Redaktion, die bestimmte Formate oder Gefäße befüllt, wird Stoffe auch danach beurteilen, ob sie dazu passen", schreibt Klaus Raab in der MDR-Medienkolumne "Altpapier" im Rahmen der aktuellen Debatte. Beim Thema Boateng haben der federführende BR, der SWR und der RBB in dieser Hinsicht aber womöglich falsch gelegen. Ein Grund: "Being"-Filme kommen grundsätzlich ohne Off-Text aus. Bei juristischen Themen kann der jedoch manchmal notwendig sein - zum Beispiel, wenn es zu differenzieren gilt, was einem Angeklagten nachgewiesen konnte und was nicht. Oder wenn Prozessbeobachter und andere Fachleute in Interviews auf komplizierte, der breiteren Öffentlichkeit kaum vertraute Details eingehen, die zusätzlicher Kontextualisierung bedürfen. Durch Off-Moderationen besteht zudem die Möglichkeit, das Publikum über etwaige rechtliche Einschränkungen der Berichterstattung zu informieren. Die ARD räumt gegenüber KNA ein, in "Being Jérôme Boateng" sei "vielleicht nicht genügend deutlich gemacht worden", dass "bestimmte Sachverhalte zum Schutz der Betroffenen nicht öffentlich behandelt werden dürfen". Dass die ARD Themen in Formate presst, in die sie nicht passen, ist kein Einzelfall. Im vergangenen Jahr lief in der Reihe "ARD Crime Time" der Mehrteiler "Der Anschlag - Terror in Halle und Wiedersdorf". Die Dokumentation liefert die Erkenntnis, dass das Thema rechtsextremistischer Terror sich nicht mit den Mitteln des True-Crime-Fernsehens abhandeln lässt. Das hätten die zuständigen Redakteure aber auch vorher ahnen können. Als Fazit bleibt, dass sich die Debatte über den Boateng-Dreiteiler hätte vermeiden lassen. In der Reihe "ARD Story" wäre die Boateng-Geschichte möglicherweise besser platziert gewesen - aber dort laufen in der Regel keine Mehrteiler. Das eigentliche Dilemma liegt aber woanders: Die ARD zeigt zu selten Mut für unformatierte Produktionen.